Corona = "Material Adverse Event", "Störung der Geschäftsgrundlage" oder "wesentliche Verschlechterung der Vermögensverhältnisse" bei Kreditnehmern?
Kreditverträge für Unternehmen sehen typischerweise das Konzept eines “wesentlich nachteiligen Ereignisses” bzw. einer “wesentlich nachteiligen Veränderung” vor. Dieses Konzept stammt aus der US-amerikanischen Praxis der M&A-Verträge und hat zudem über den Londoner Finanzplatz und die Vertragsformulare der “Loan Market Association” weite Verbreitung in ganz Europa gefunden.
Ein “wesentlich nachteiliges Ereignis” oder “Material Adverse Event” / “Material Adverse Change” (“MAC”) ist in Unternehmenskreditverträgen regelmäßig als Kündigungsgrund vereinbart, so dass der Kreditgeber bei dessen Vorliegen dem Vertragswortlaut zufolge die Kreditvaluta fällig stellen und zurückfordern sowie weitere Auszahlungen verweigern kann. Ferner ist der Kreditnehmer zur unverzüglichen Information des Kreditgebers über das Vorliegen eines “wesentlich nachteiligen Ereignisses” verpflichtet.
Ein “wesentlich nachteiliges Ereignis” wird häufig definiert als ein Ereignis, das eine wesentliche nachteilige Wirkung hat auf (a) den Geschäftsverlauf, die Aussichten oder die Vermögens-, Finanz- oder Ertragslage des Kreditnehmers, einer wesentlichen Tochtergesellschaft des Kreditnehmers oder der Gruppe des Kreditnehmers als Ganzes, (b) die Fähigkeit des Kreditnehmers (oder eines Garantiegebers), seinen Verpflichtungen unter einem Finanzierungsdokument nachzukommen, oder (c) die Wirksamkeit oder Durchsetzbarkeit eines Finanzierungsdokumentes oder die Ansprüche und Rechte einer Finanzierungspartei aus einem Finanzierungsdokument.
Das ist jedoch nur die Grob-Definition. Es wird oft über wichtige Details verhandelt, zum Beispiel über die folgenden Punkte:
- Geht es um eine kurzfristige nachteilige Wirkung oder genügt eine langfristige nachteilige Wirkung?
- Muss die nachteilige Wirkung feststehen oder genügt es, wenn sich die Möglichkeit einer nachteiligen Wirkung in relevanter Weise verdichtet hat (d.h. muss das Ereignis die nachteilige Wirkung “haben” oder genügt es, dass es sie “haben könnte”)?
- Muss der objektive Nachweis geführt werden oder kommt es auf die Einschätzung der Kreditgeber an?
Der Kern der Definition, nämlich das “wesentlich nachteilige Ereignis”, bleibt jedoch ein unbestimmter Rechtsbegriff. Wendet man diesen unbestimmten Rechtsbegriff auf die wirtschaftliche Situation vieler Unternehmen in der gegenwärtigen Corona-Pandemie an, so ist es ein wenig wie bei dem Gleichnis von den blinden Männern und dem Elefanten. Jeder ertastet ein anderes Erkennungsmerkmal, aber alle meinen: Das ist wohl ein Elefant.
Natürlich ist die aktuelle Situation noch im Fluss. Vor allem die Dauer des Shutdowns ist noch unklar. Auch hängt viel von den besonderen Verhältnissen des einzelnen Unternehmens ab, von der Diversifizierung des Geschäftsmodells, der Höhe der Rücklagen, der Kostenstruktur, etc. Aber z.B. ein Mode-Label, das seine Filialen nicht eröffnen kann und auf der Sommerkollektion sitzen bleibt, ein Hotel-Betreiber, der nach dem ausgebliebenen Ostergeschäft nun auf die Sommerbuchungen wartet oder ein Messe-Veranstalter, der bis auf weiteres keine Messen veranstalten kann, wird häufig von einem “wesentlich nachteiligen Ereignis” in diesem Sinne betroffen sein.
Deutsche Rechtsprechung zur verbindlichen Auslegung dieses Rechtsbegriffes und zu den konkreten Rechtsfolgen auf der Basis der entsprechenden Kreditverträge gibt es bislang nicht. Allerdings gibt es im deutschen Recht seit vielen Jahrzehnten etablierte Rechtsfiguren, die zum Teil anlässlich von ebenfalls tiefgreifenden Wirtschaftskrisen entwickelt wurden und zwar nicht die genaue Terminologie des “wesentlich nachteiligen Ereignisses” aufgreifen, aber doch die gleichen Sachfragen betreffen. Hier geht es zum einen um das Rechtsinstitut der “Störung der Geschäftsgrundlage” (normiert in § 313 BGB, früher “Wegfall der Geschäftsgrundlage” genannt) und zum anderen um das außerordentliche Kündigungsrecht des Kreditgebers bei “wesentlicher Verschlechterung der Vermögensverhältnisse” des Kreditnehmers gemäß § 490 Abs. 1 BGB.
Corona als Störung der Geschäftsgrundlage?
Das erst im Jahr 2001 im Gesetz (§ 313 BGB) kodifizierte Rechtsinstitut der Störung der Geschäftsgrundlage wurde bereits vor 100 Jahren von der Rechtswissenschaft und dem Reichsgericht entwickelt, nachdem der erste Weltkrieg, Revolution und Hyperinflation viele Vertragsverhältnisse erschüttert hatte. Gemäß § 313 Abs. 1 BGB kann eine Anpassung des Vertrags verlangt werden, wenn sich Umstände, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert haben und wenn erstens die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen hätten, wenn sie diese Veränderung vorausgesehen hätten und wenn zweitens einem Vertragsteil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann. Dies gilt nach § 313 Abs. 2 BGB auch beim sog. Fehlen der Geschäftsgrundlage, also bei einem gemeinschaftlichen Irrtum über einen für die Willensbildung wesentlichen Umstand.
Man könnte nun aus Kreditnehmersicht daran denken, das Konzept der Störung der Geschäftsgrundlage dem Eingreifen einer “MAC”-Klausel gewissermaßen entgegenzuhalten. Das Argument würde dann lauten: Mag sein, dass nach den gängigen Definitionen ein “MAC” vorliegt. Aber der aktuelle Pandemie-Shutdown ist eine derart dramatische Veränderung der makroökonomischen Rahmenbedingungen, dass die Parteien den “MAC” bei Erwartung dieser Entwicklung vernünftigerweise qualifiziert und für diese Krisensituation nicht ein solches einseitiges Sonderkündigungsrecht vereinbart hätten.
Jedoch hat die deutsche Rechtsprechung über die Jahrzehnte bei mehreren Gelegenheiten klargestellt, dass ein Kreditnehmer das Konzept der Störung der Geschäftsgrundlage nicht auf diese Weise dem Kreditgeber entgegenhalten kann. Ein solcher pauschaler Verweis des Kreditnehmers auf die COVID-19-Pandemie wäre nämlich ein Verweis auf die Störung der sogenannten “großen Geschäftsgrundlage”, also eine Störung der dem Vertrag zugrunde liegenden Erwartung, dass sich die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen insgesamt nicht grundsätzlich verändern.
Diese Erwartung ist aktuell ohne Zweifel gestört. Allerdings verfolgt die deutsche Rechtsprechung die restriktive Linie, dass eine durch wirtschaftliche oder soziale Katastrophen verursachte allgemeine Not und daraus resultierende Probleme auf vertraglicher Ebene nicht mit dem Instrument des § 313 BGB gelöst werden können. Zudem setzt ein Anspruch auf Vertragsanpassung wegen Störung der Geschäftsgrundlage eine Bewertung auf Basis der vertraglichen Risikosphären voraus. Hier ist anerkannt, dass das Risiko der Geldbeschaffung und Finanzierung bei dem Geldschuldner, d.h. bei dem Kreditnehmer liegt.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in einem Urteil des Jahres 1952 (BGHZ 7, 360) anlässlich der Zerstörungen des zweiten Weltkrieges entschieden, dass Zahlungsverpflichtungen aus Darlehensverträgen nicht unter Verweis auf eine solche Störung der “großen Geschäftsgrundlage” modifiziert werden können. Für solche Eingriffe in Vertragsverhältnisse seien vielmehr spezielle gesetzgeberische Maßnahmen erforderlich (welche es damals im Rahmen der Währungsreform nach dem Ende des zweiten Weltkrieges in der Tat gab).
Auch jetzt hat der Gesetzgeber durch gesetzgeberische Maßnahmen auf zivilrechtlicher Ebene auf die Störung der “großen Geschäftsgrundlage” reagiert, nämlich durch das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht vom 27. März 2020. Der neue Artikel 240 EGBGB (Vertragsrechtliche Regelungen aus Anlass der COVID-19-Pandemie) schafft punktuelle Zahlungserleichterungen für Verbraucher verbunden mit der Option, diese auf Kleinstunternehmen auszuweiten. Weitere gesetzliche Maßnahmen gibt es derzeit nicht. Eine darüber hinausgehende Zahlungserleichterung werden Kreditnehmer nicht mit Verweis auf die Störung der “großen Geschäftsgrundlage” erreichen können.
Allerdings: Kreditverträge für Unternehmen enthalten zahlreiche individuelle Auflagen, insbesondere zur Einhaltung von Finanzkennzahlen (Financial Covenants). Diese werden individuell verhandelt und auf die konkreten wirtschaftlichen Verhältnisse zugeschnitten. Bei der Festlegung dieser Parameter ist die Existenz und das Funktionieren bestimmter Marktmechanismen durchaus eine zugrundeliegende konkrete, in diesem Sinne “kleine” Geschäftsgrundlage. Es ist deshalb denkbar, dass Kreditnehmer aktuell einen Anspruch auf Anpassung von konkreten Finanzkennzahlen gestützt auf § 313 BGB haben, denn diese Finanzkennzahlen beruhen regelmäßig auf beiderseitig im Vorhinein als realistisch zugrunde gelegten Projektionen, die jetzt oft nicht mehr das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt sind. Derartige Abweichungen sind auch nicht ohne weiteres ausschließlich der Risikosphäre des Kreditnehmers zuzuweisen. Denn es geht bei den Finanzkennzahlen regelmäßig nicht um die Frage der Rückzahlbarkeit des Kredites oder um die Fälligkeit einzelner Raten (für die der Kreditnehmer – gewissermaßen komme was wolle – das Beschaffungsrisiko trägt), sondern um die Austarierung eines Frühwarnsystems.
Damit werden aber aktuell festgeschriebene Finanzkennzahlen nicht schlechtweg hinfällig. Dies muss im Einzelfall betrachtet und bewertet werden. In praktischer Hinsicht ist eine offene Kommunikation mit dem Kreditgeber und der Verhandlungsweg einem konfrontativen Kurs vorzuziehen, denn mit einem monatelangem Rechtsstreit wäre in der aktuellen Situation keiner Partei gedient.
Zwischenfazit: Corona stellt in der Tat vielfach eine Störung der Geschäftsgrundlage dar, allerdings wird dies auf der Basis von § 313 BGB bei Unternehmenskreditverträgen nur punktuell einen Anspruch auf Vertragsanpassung begründen, möglicherweise bei einzelnen Finanzkennzahlen. Zahlungstermine lassen sich hierdurch nicht verschieben. Auch ein im Vertrag festgeschriebener Kündigungsgrund wegen eines “MAC” lässt sich hiermit wohl nicht aushebeln.
“Wesentliche Verschlechterung der Vermögensverhältnisse” wegen Corona?
Es besteht eine augenfällige Parallele zwischen den gängigen Definitionen des “MAC” und dem Sonderkündigungsrecht gemäß § 490 Abs. 1 BGB, wonach der Kreditgeber “in der Regel” zur fristlosen Kündigung des Kredits berechtigt ist, wenn in den Vermögensverhältnissen des Kreditnehmers oder in der Werthaltigkeit einer für den Kredit gestellten Sicherheit eine wesentliche Verschlechterung eintritt oder einzutreten droht, durch die die Rückzahlung des Kredites, auch unter Verwertung der Sicherheit, gefährdet wird. Dieses gesetzliche Kündigungsrecht wird in den AGB der Banken und Sparkassen aufgegriffen und auf den Fall der Gefährdung sämtlicher Zahlungsansprüche ausgedehnt, so dass der Kündigungsgrund auch dann eingreift, wenn nicht erst der gesamte Kredit, sondern nur ein erheblicher Teil, z.B. eine anstehende erhebliche Tilgungsrate, gefährdet ist.
Wie die deutschen Gerichte den “MAC”-Kündigungsgrund vor dem Hintergrund von § 490 Abs. 1 BGB bewerten werden, ist durchaus offen. Denkbar ist, den “MAC”-Kündigungsgrund in Unternehmenskreditverträgen – soweit verhandelt – als individualvertragliche Modifikation von § 490 Abs. 1 BGB zu verstehen, oder auch – was näher liegt – als neben § 490 Abs. 1 BGB hinzutretende, ergänzende Regelung eines Kündigungsgrundes.
Gleich wie man den “MAC”-Kündigungsgrund vor dem Hintergrund von § 490 Abs. 1 BGB einordnet, ob ergänzend oder konkretisierend, und abhängig von der Ausgestaltung des “MAC”-Kündigungsgrundes im Einzelfall, wird man in der aktuellen Corona-Lage jedenfalls bei einer ganzen Reihe von Unternehmen konstatieren müssen, dass eine in relevanter Weise zahlungsgefährdende “wesentliche Verschlechterung der Vermögensverhältnisse” bzw. eine “wesentliche nachteilige Änderung” vorliegt.
Doch bei der praktischen Handhabung dieses Kündigungsgrundes, bzw. beider Kündigungsgründe, ist Vorsicht angebracht. Es ist auf der Grundlage von § 490 Abs. 1 BGB anerkannt, dass die fristlose Kündigung bei einem bereits ausgezahlten Darlehen eine vorgängige Interessenabwägung unter Einbeziehung der Belange des Kreditnehmers erforderlich macht. Dies wird an der Gesetzesformulierung in § 490 Abs. 1 BGB festgemacht, wonach das fristlose Kündigungsrecht nur “in der Regel” besteht.
Inwiefern in der aktuellen Corona-Situation ein gleicher Vorbehalt auch bei einem “MAC”-Kündigungsgrund im Unternehmenskreditvertrag gegeben ist, steht nicht mit Sicherheit fest. Es ist jedoch jedem Kreditgeber zu empfehlen, die bei § 490 Abs. 1 BGB üblichen Maßstäbe auch im Falle des “MAC”-Kündigungsgrundes anzuwenden. Unabhängig von der Frage, ob ein sofortiger “harter Schnitt” von Seiten des Kreditgebers durch fristlose Kündigung gegenüber einem Kreditnehmer, der wegen der Corona-Pandemie in eine Schieflage geraten ist, von § 490 Abs. 1 BGB gedeckt wäre, stellt sich die Frage der Sinnhaftigkeit einer solchen Maßnahme vor dem Hintergrund des Gesetzes zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht und zur Begrenzung der Organhaftung bei einer durch die COVID-19-Pandemie bedingten Insolvenz (COVInsAG) vom 27. März 2020. Denn zwar würde auf diese Weise der gesamte Kredit zur Rückzahlung fällig, jedoch könnte diese Forderung nicht bedient werden und eine Insolvenzantragspflicht würde jedenfalls bis zum 30. September 2020 nicht entstehen. Ein Gläubigerinsolvenzantrag wäre gemäß § 3 COVInsAG unzulässig, weil dies einen bereits am 1. März 2020 vorliegenden Eröffnungsgrund voraussetzen würde.
Praktische Konsequenzen des “wesentlichen nachteiligen Ereignisses”
Es bleibt zu konstatieren, dass die “MAC”-Kündigungsgründe in Unternehmenskreditverträgen in der aktuellen Situation hochrelevant sind. Allerdings dürften weniger “Alles oder Nichts”-Fragen einer sofortigen Kündigung im Vordergrund stehen, bei der – wie gezeigt – besondere Vorsicht geboten ist. Vielmehr ist ein aktiver, bewusster und offener Umgang mit diesem Thema geboten. Der Kreditnehmer sollte in jedem Falle seiner vertraglichen Anzeigepflicht gegenüber dem Kreditgeber nachkommen, wenn eine “wesentliche nachteilige Änderung” festzustellen ist. Bei anstehenden Ziehungsgesuchen muss sich der Kreditnehmer im Kontext der wiederholenden Gewährleistungen (“Repeated Representations”) hierüber erklären. Der Kreditgeber kann weitere Valutierungen in dieser Situation einer “wesentlichen nachteiligen Änderung” regelmäßig verweigern, jedoch sollte der Kreditgeber auch diese Reaktion eines “draw stop” nicht schematisch vornehmen sondern gut überdenken. Eine zivilrechtliche Haftung gegenüber anderen Gläubigern (Stichwort: Insolvenzverschleppung) droht dem Kreditgeber bei solchen weiteren Auszahlungen jedenfalls nicht. § 2 Abs. 1 Nr. 3 COVInsAG regelt ausdrücklich, dass “Kreditgewährungen und Besicherungen im Aussetzungszeitraum” (d.h. vorerst bis zum 30. September 2020) nicht als sittenwidriger Beitrag zur Insolvenzverschleppung anzusehen sind.
- Die EU-KI-Verordnung und ihre Auswirkungen auf die (teil-) automatisierte Kreditvergabe
- Das Verbot des Gebührenmodells Payment for Order Flow („PFOF“) durch die EU und die Aufsichtsmitteilung der BaFin zum Umgang mit dem PFOF-Verbot
- Online-Beurkundungen – Schritt für Schritt auf dem Weg zur Digitalisierung im Notariat